4.
Menschen mit geistiger Behinderung und Selbstbestimmung 4.1
Definition von "geistiger Behinderung" Bevor
ich direkt auf das Thema "Geistig behinderte Menschen und
Selbstbestimmung" eingehe, soll zunächst geklärt werden, was unter der
Bezeichnung "geistige Behinderung" verstanden werden kann. Um dem
geistig behinderten Menschen gerecht zu werden, erscheint es mir dabei besonders
wichtig, etwas ausführlicher verschiedene Definitionsansätze und deren
Hintergründe darzustellen. Denn, einen Menschen aus verschiedenen
Blickrichtungen zu betrachten, verhindert, ihn “in eine bestimmte Schublade zu
stecken” und trägt somit zu einer Entstigmatisierung bei. 4.1.1
Relativität der Bezeichnung "Behinderung" Wie
"Behinderung" definiert wird, ist abhängig von dem historischen und
kulturellen Hintergrund, vom Stand der Wissenschaft und von dem in der
jeweiligen Gesellschaft vorherrschenden Menschenbild. So wurden etwa im
Mittelalter behinderte Menschen mit Dämonen in Verbindung gebracht, um
abweichendes Verhalten oder Gebrechlichkeiten zu erklären. Dies führte zu
ihrer Verfolgung und oft zu ihrer Vernichtung (vgl. HAEBERLIN, 1996, 87). Heute
gibt es, aufgrund des gesellschaftlichen und kulturellen Wandels und des
wissenschaftlichen Fortschritts, andere Erklärungsansätze für Behinderungen.
Die Stellung von behinderten Menschen in der Gesellschaft hat sich entsprechend
geändert. Weil der Begriff der Behinderung, und was darunter zu verstehen ist,
von der gesellschaftlichen Situation abhängig ist, kann er sich immer wieder
verändern. Behinderung ist somit ein relativer Sachverhalt (vgl. HAEBERLIN,
1992, 27). Unabhängig
vom historischen Wandel machen nach HAEBERLIN noch weitere Faktoren die
Relativität der Bezeichnung "Behinderung" aus: Die
Abgrenzung der Schweregrade einer Behinderung kann etwa von den Bezugspersonen
abhängig sein. So kommt es vor, "wenn es üblich ist, dass in einer
Familie die Kinder eine Gymnasialausbildung erhalten", dass etwa
"schon eine leichte Lernbehinderung als schwerwiegendes Übel
empfunden" wird. Dagegen kann es sein, dass "dieselbe leichte
Lernbehinderung" in einer anderen Familie "überhaupt nicht
wahrgenommen" wird, weil es in ihr üblich ist, "daß die Kinder im
besten Falle gelernte Arbeiter werden" (vgl. HAEBERLIN, 1992, 27). Auch
unterschiedliche Hilfen können bei objektiv gleichen Schädigungen zu
"verschiedenartigen Schweregraden der Behinderung führen": "Die
gleiche Lähmung kann in einem Fall bei ungünstiger Hilfe zu dauernder
Erwerbsunfähigkeit und im anderen Fall zur gelungenen beruflichen
Rehabilitation führen" (HAEBERLIN, 1992, 28). Als
weiterer Faktor kommt hinzu, daß die Schwere einer Behinderung von den
betroffenen Menschen oft unterschiedlich empfunden wird. HAEBERLIN führt dazu
aus: "Aus der Sicht der sozialen Umwelt ist eine Lernbehinderung leichter
als eine geistige Behinderung. Dennoch empfindet vermutlich ein Lernbehinderter
subjektiv seine Behinderung als schwerer, als ein Geistigbehinderter unter
seiner Behinderung leidet; denn dem geistigbehinderten Kind wird vermutlich die
intellektuelle Unfähigkeit weniger bewußt als dem lernbehinderten Kind" (HAEBERLIN,
1992, 28). Ein
weiterer Faktor, der den Begriff der Behinderung relativiert, ist die Zeit. So
ist es möglich, dass eine Lernbehinderung nur während der Schulzeit andauert
und später aufgrund einer gelungenen beruflichen Eingliederung “verschwindet”.
Behinderung kann also auf einen bestimmten Zeitraum begrenzt sein (vgl.
HAEBERLIN, 1992, 28). Das
Gleiche gilt für verschiedene Lebensbereiche: "Es ist denkbar, dass
beispielsweise das Kind einer Gastarbeiterfamilie zu Hause unauffällig ist,
während es in der Schule wegen Lern- und Beziehungsschwierigkeiten starke
Verhaltensstörungen zeigt" (HAEBERLIN, 1992, 28). Zusammenfassend
kann festgehalten werden: Ob ein Mensch als behindert gilt, ist wesentlich von
den gesellschaftlichen Bedingungen und den vorherrschenden Norm- und
Wertvorstellungen abhängig. Wenn ein Mensch in seinem Verhalten, in seinen
geistigen und körperlichen Fähigkeiten von einer Vergleichsgröße (einer
"Norm") abweicht, kann er zum "Behinderten" werden. Dies
kann dann der Fall sein, wenn er einem zahlenmäßig festgelegten Durchschnitt
("statistische Norm") oder dem Idealbild einer Gesellschaft
("ideale Norm") nicht entspricht. (vgl. HAEBERLIN, 1992, 28 f.; vgl.
auch BLEIDICK, 1993, 14). 4.1.2
Verschiedene Definitionsansätze von "Behinderung" Weil
der Begriff der Behinderung, wie oben gezeigt wurde, sehr relativ ist, gibt es
keine endgültige, allgemein anerkannte Definition, wann ein Mensch als
behindert gilt (vgl. BLEIDICK, 1993, 12). Die vier wichtigsten
Definitionsansätze verschiedener wissenschaftlicher Diszipline sollen an dieser
Stelle dargestellt werden. Zu unterscheiden sind der medizinische, der
psychologische, der soziologische und der pädagogische Ansatz (vgl. SPECK,
1993, 45ff). Nach
dem medizinischen Ansatz kann Behinderung folgendermaßen definiert werden:
"Behinderung ist die Auswirkung einer Schädigung im Individuum und die
dadurch hervorgerufene Veränderung von Funktionen im menschlichen Organismus.
Sie ist immer Folge eines ursprünglich krankhaften Ereignisses" (KREBS,
1993, 22). Eine Behinderung hat demnach immer eine körperliche Basis, ist also
ein personinhärentes Problem. Im
psychologischen Definitionsansatz steht die Intelligenz im Vordergrund, die
über Intelligenztests gemessen wird. Entsprechend diesem Ansatz wurde die
geistige Behinderung lange Zeit direkt als "intellektuelle Retadierung"
definiert (vgl. SPECK, 1993, 47). Dem
soziologischen Ansatz zufolge ist eine Behinderung eine Folge der sozialen und
gesellschaftlichen Bedingungen. So gibt es Untersuchungen, dass es etwa in
sozial schwachen Bevölkerungsschichten zu häufigeren Geburtskomplikationen
kommt, die zu Behinderungen führen (vgl. SPECK, 1993, 50ff). Behinderung kann
demnach immer auch ein Gesellschaftsprodukt sein. Nach
dem pädagogischen Ansatz, "liegt nur dann eine Behinderung vor, wenn der
Erziehungsprozess behindert wird" (HAEBERLIN, 1992, 30). Die
Darstellung der verschiedenen Definitionsansätze macht deutlich, dass in den
jeweiligen Fachdisziplinen die Schwerpunkte, was eine Behinderung ausmacht,
unterschiedlich gelegt werden. Nach BLEIDICK ist der Begriff “Behinderung”
daher "von einem handlungsgeleiteten Erkenntnisinteresse
zweckbestimmt". Die "Bezeichnungs- Absicht", so BLEIDICK,
"ist zweckgebunden". Während etwa der Arzt "Behinderte
heilen" wolle, wolle der Pädagoge behinderte Menschen erziehen (BLEIDICK,
1993, 15). Dies schlägt sich schließlich in den Definitionen nieder. Obwohl
jede Behinderung sowohl einen medizinischen, einen psychologischen, einen
soziologischen und einen pädagogischen Aspekt haben kann, beziehen sich
Definitionen von Behinderungen nie ausgewogen auf alle Aspekte. Abschließend
sei eine Definition von Behinderung wiedergegeben, in der unter
Berücksichtigung des psychologischen und medizinischen der pädagogische Aspekt
im Vordergrund steht und daher für die pädagogische Arbeit des
Heilerziehungspflegers von besonderer Bedeutung ist. So definiert der DEUTSCHE
BILDUNGSRAT Behinderung folgendermaßen: "Als
behindert im erziehungswissenschaftlichen Sinne gelten alle Kinder, Jugendlichen
und Erwachsenen, die in ihrem Lernen, im sozialen Verhalten, in der sprachlichen
Kommunikation oder in den psychomotorischen Fähigkeiten so weit beeinträchtigt
sind, dass ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft wesentlich erschwert ist.
Deshalb bedürfen sie besonderer pädagogischer Förderung.
Behinderungen
können ihren Ausgang nehmen von Beeinträchtigungen des Sehens, des Hörens,
der Sprache, der Stütz- und Bewegungsfunktionen, der Intelligenz, der
Emotionalität, des äußeren Erscheinungsbilds sowie von bestimmten chronischen
Krankheiten. Häufig treten auch Mehrfachbehinderungen auf ..." (DEUTSCHER
BILDUNGSRAT zitiert nach HENSLE, 1988, 16 f.) 4.1.3
Verschiedene Definitionen von “geistiger Behinderung” Bei der
geistigen Behinderung handelt es sich aus medizinisch-psychiatrischer Sicht um
einen angeborenen oder früh erworbenen Intelligenzmangel. Synonym zu Geistiger
Behinderung werden vor allem in der Psychiatrischen Krankheitslehre
Bezeichnungen wie "Minderbegabung", "geistige
Entwicklungsstörung", "Oligophrenie" und "Schwachsinn"
verwendet. Dabei wird der "Schwachsinn" mit Hilfe von Testverfahren
zur Bestimmung eines Intelligenzquotienten (IQ) in drei Ausprägungsgraden
unterschieden: Debilität (IQ 69-50), Imbezillität (IQ 49-20) und Idiotie (IQ
19-0) (vgl. VETTER, 1995, 50ff). HENSLE schreibt in diesem Zusammenhang:
"Abgesehen davon, daß der Ausdruck 'Schwachsinn' sachlich nicht korrekt
ist - es handelt sich ja nicht um einen Defekt der Sinne - , sind die Termini
der psychiatrischen Klassifikation zum Teil mit so starken negativen
Konnotationen behaftet, daß sie nur mehr als Diskriminierung aufgefasst werden
können" (HENSLE, 1988, 108). Dieser Meinung schließe ich mich an. Eine
Definition aus psychologischer Sicht liegt von BACH vor. Er definiert geistig
behinderte Menschen als "Personen, deren Lernverhalten wesentlich hinter
der auf das Lebensalter bezogenen Erwartung zurückbleibt und durch ein
dauerndes Vorherrschen des anschauend-vollziehenden Aufnehmens, Verarbeitens und
Speicherns von Lerninhalten und eine Konzentration des Lernfeldes auf direkte
Bedürfnisbefriedigung gekennzeichnet ist, was sich in der Regel bei einem
Intelligenzquotienten von unter 55/60 findet" (BACH zitiert nach HENSLE,
1988, 106). In diesem Zusammenhang sei auf MICHEL/NOVAK verwiesen, deren Ansicht
nach IQ-Werte nur "grobe Orientierungswerte" sind, "denn die
verwendeten Intelligenztests wurden meist für Nichtbehinderte entwickelt und
die Leistungen Behinderter lassen sich - vor allem qualitativ - nicht exakt mit
denen Nichtbehinderter vergleichen" (MICHEL/NOVAK, 1991, 126). Abschließend
möchte ich eine Definition wiedergeben, die aus meiner Sicht weniger
defizitorientiert ist, wie die beiden oben genannten, und in der der
pädagogische Aspekt den Schwerpunkt bildet. So sieht SPECK in einer geistigen
Behinderung "spezielle Erziehungsbedürfnisse, die bestimmt werden durch
eine derart beeinträchtigte intellektuelle und gefährdete soziale Entwicklung,
dass lebenslange pädagogisch-soziale Hilfen zu einer humanen
Lebensverwirklichung nötig werden" (SPECK, 1993, 62). Dieser Definition
schließe ich mich an. 4.2
Erschwernisse der Selbstbestimmung Grundsätzlich
gilt, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung genauso ein Recht auf eine
selbstbestimmte Gestaltung des eigenen Lebens haben, wie nicht behinderte
Menschen. Selbstbestimmung hat für geistig behinderte Menschen dieselbe
Bedeutung, wie für alle anderen Menschen auch. Allerdings ist für geistig
behinderte Menschen ein selbstbestimmtes Leben in vielerlei Hinsicht erschwert.
Die Ursachen und Gründe hierfür können in der Behinderung selbst, aber auch
im sozialen Umfeld und den Strukturen, in denen geistig behinderte Menschen
leben, liegen.
4.2.1
Erschwernisse, die in der Behinderung liegen Dadurch,
dass die intellektuelle Entwicklung bei geistig behinderten Menschen
beeinträchtigt ist, sind sie im Vergleich zu nicht-behinderten Menschen in
verstärktem Maße auf Unterstützung zur Bewältigung des Lebensalltags
angewiesen (vgl. THEUNISSEN/PLAUTE, 1995, 22). Vielen geistig behinderten
Menschen wäre es nicht möglich, sich ohne Unterstützung selbst zu versorgen
und letztendlich zu überleben. Je stärker ein Mensch von anderen Menschen
abhängig ist, desto geringer ist schließlich der Grad der Selbstbestimmung. So
kann ein geistig behinderter Mensch, der beispielsweise beim Kochen
Unterstützung benötigt, nicht selbst bestimmen, wann er damit beginnt. Statt
dessen muss er etwa in einem Wohnheim mit dem pädagogischen Personal hierfür
einen Zeitpunkt aushandeln. Dieser richtet sich schließlich in erster Linie
danach, wann das Personal Zeit hat.
Oft
sind geistig behinderte Menschen auch aufgrund ihrer intellektuellen
Beeinträchtigung nur in der Lage “Ja-Nein-Entscheidungen” zu treffen. Dies
soll anhand des folgenden Beispiels aus meiner Praxis näher verdeutlicht
werden:
Herr A.
(28 Jahre), hat laut ärztlicher Diagnose eine schwere geistige Behinderung in
Folge eines frühkindlichen Hirnschadens. Er ist nicht dazu in der Lage, dem
pädagogischen Personal auf die Frage, was er trinken möchte, verbal oder
nonverbal mitzuteilen, ob er Apfelsaft, Orangensaft, Wasser, Kaffe oder Tee zum
Kuchen trinken möchte. Das pädagogische Personal muss daher stellvertretend
für Herrn A. eines dieser Getränke auswählen und ihm anbieten. Herr A. kann
sich nun für das Getränk entscheiden, indem er davon probiert und weiter
trinkt, oder dagegen, indem er ebenfalls probiert, jedoch anschließend das
Gesicht verzieht und das Glas bei Seite schiebt. Hierbei
handelt es sich zwar um eine selbstbestimmte Entscheidung, der Grad der
Selbstbestimmung ist jedoch gering. So entscheidet Herr A. schließlich “nur”
ob er das Getränk trinkt oder nicht. Welches Getränk ihm zum probieren
angeboten wird, kann er dagegen nicht auswählen und selbst bestimmen. Dies muss
stellvertretend das pädagogische Personal für ihn übernehmen. 4.2.2
Erschwernisse, die im sozialen Umfeld liegen Wie
eingangs bereits erwähnt, kann auch das soziale Umfeld, d. h. Menschen, die mit
geistig behinderten Menschen in Beziehung stehen, deren
Selbstbestimmungsmöglichkeiten erschweren und beschneiden. Das vorherrschende
Menschenbild spielt dabei die zentrale Rolle, ob geistig behinderten Menschen
Selbstbestimmung zugestanden und ermöglicht wird, oder nicht. Bis in
die heutige Zeit hinein werden geistig behinderte Menschen häufig
ausschließlich als hilfs- und pflegebedürftige Wesen mit “Defiziten” und
“Defekten” gesehen. Dies gilt nicht nur allgemein für weite Teile der
Gesellschaft, sondern auch für die Heilpädagogik. Oft steht nicht der Mensch
als Wesen mit Gefühlen und ganz individuellen Bedürfnissen im Zentrum
pädagogischen Bemühens, sondern dessen Behinderung, die es zu “behandeln”
gilt und die Anpassung an von wem auch immer festgelegte Normen (vgl. THEUNISSEN/PLAUTE,
1995, 60 f.). Ein Blick auf standartisierte Beobachtungssysteme wie die
PAC-Bögen von GÜNZBURG, die von der Lebenshilfe vertrieben werden, und mit
denen ein Förderbedarf ermittelt werden soll, macht dies deutlich. Darin sind
dann beispielsweise Items wie dieser enthalten, auf die der geistig behinderte
Mensch “untersucht” werden soll: “Zeigt gewohnheitsmäßig annehmbare
Tischmanieren“. Im dazugehörigen Handbuch heißt es dazu u.a.: “Wenn das
Benehmen bei Tisch andere Leute nicht stört oder anwiedert z.B. Essen aus dem
Mund fallen lassen, wird dieser Punkt gegeben” (GÜNZBURG, 1991, 137). In
anderen Items wird gefragt, ob der behinderte Mensch Zahlenreihen aufsagen kann,
ob er sich gelegentlich die Schuhe putzt oder ob er dazu bereit ist, “ohne
Protest” zu teilen (vgl. GÜNZBURG, 1991, 70, 103, 122). Nach den
individuellen Bedürfnissen, Stärken und Ressourcen des behinderten Menschen
wird dagegen nicht gefragt. Sie geraten zwangsläufig in den Hintergrund und
bleiben schließlich auf der Strecke. Ein
solches defizitorientiertes Menschenbild und das fehlendes Vertrauen in die
Ressourcen geistig behinderter Menschen führt oft zu deren Bevormundung und
Überbefürsorgung (vgl. THEUNISSEN/PLAUTE, 1995, 56 f.; HAHN, 1995, 10). Oft
gehen dabei Eltern und professionelle Helfer davon aus, geistig behinderte
Menschen könnten keine Entscheidungen treffen bzw. sie müssten vor falschen
Entscheidungen bewahrt werden. Dies hat zur Folge, dass die Eltern oder die
professionellen Helfer stellvertretend Entscheidungen treffen. Die
Möglichkeiten des geistig behinderten Menschen zur Selbstbestimmung werden
dadurch eingeschränkt. Dies kann mit folgenden Beispielen aus meiner Praxis
belegt werden:
Herr M.
ist 28 Jahre alt. Er hat laut ärztlicher Diagnose eine geistige Behinderung in
Folge eines frühkindlichen Hirnschadens. Er kann Bedürfnisse, Wünsche und
Interessen nach außen hin mitteilen. Dies tat er auch, als ich an einem Samstag
im Dienst war. Als gegen Mittag sein Vater zu Besuch kam, machte dieser Herrn M.
den Vorschlag, zum schwimmen zu fahren. Herr M. lehnte diesen Vorschlag ab und
äußerte dagegen den Wunsch, im Wohnheim bleiben zu wollen. Seine Entscheidung
war klar und eindeutig. Sein Vater respektierte seine Entscheidung jedoch nicht
und forderte ihn eindringlich dazu auf, mitzukommen. Herr M. kam der
Aufforderung seines Vaters schließlich resignierend nach. Frau C.
ist 31 Jahre alt und hat laut Akte ein Laurence-Moon-Biedel-Bardet-Syndrom, mit
dem eine Veranlagung zur Adipositas (“Fettleibigkeit”) verbunden ist. Sie
kann ebenfalls Bedürfnisse, Wünsche und Interessen nach außen hin mitteilen.
Frau C. wäre dazu in der Lage, selbst zu entscheiden, wieviel sie essen
möchte. Gerne würde sie auch einmal wie ihre MitbewohnerInnen eine große
Portion ihres Lieblingsgerichts Spaghetti bekommen wollen. Aus gesundheitlichen
Erwägungen hatte jedoch das MitarbeiterInnen-Team entschieden, dass Frau C. nur
kleine Portionen und keinen Nachschlag zum Essen bekommen soll. An
dieser Stelle sei auf das Phänomen des “heimlichen Betreuungskonzepts”
verwiesen, das entscheidend die Möglichkeiten geistig behinderter Menschen zur
Selbstbestimmung erschwert. THEUNISSEN/PLAUTE beschreiben es folgendermaßen: "Es
bezeichnet alle Prozesse und Regelungen, die nebenbei, unbeabsichtigt und
unbewußt ablaufen, die enorm wirksam sind und eine “heimliche”
Fremdsteuerung, eine gedankenlose Rundumversorgung und Überbehütung sowie
eine subtile Überwachung bedeuten. Auch wenn Selbstbestimmung proklamiert
wird, erhalten trotzdem viele geistig behinderte Menschen keinen eigenen
Schrank- oder Zimmerschlüssel; das Personal ist es, das bestimmt, wann und
wie lange der Einzelne baden, ob er duschen oder baden darf, welches Shampoo
und welche Seife er verwenden, welches Handtuch zum Abtrocknen er nehmen,
welche Unterhose und Strümpfe er anziehen soll, wann gefrühstückt wird,
wieviel und was er essen oder trinken darf ... Damit lernen die Behinderten
ganz “heimlich” und im Verborgenen, daß sie ihre Gefühle, Interessen und
Bedürfnisse zu unterdrücken haben. Sie lernen, daß ihr Alltag viel
Langeweile und tote Zeit beinhaltet; es wird ihnen beigebracht, daß sie
bestimmte Regeln einzuhalten haben, daß sie ihren Körper disziplinieren
müssen und je nach Betreuer unterschiedliche Gepflogenheiten zu befolgen
haben. ... Häufig wird ein zu strenger Normalitätsmaßstab angelegt, der die
Möglichkeiten einer selbstbestimmten Lebensverwirklichung durch die
Ausklammerung oder Vermeidung von “Risiken” verkümmern läßt." (THEUNISSEN/PLAUTE,
1995, 59 f.) Eine
Folge einer derartigen Einschränkung von Entscheidungsspielräumen kann
schließlich eine “erlernte Hilflosigkeit” sein (vgl. THEUNISSEN/PLAUTE,
1995, 60). NIEHOFF beschreibt diesen “Teufelskreislauf” näher: “Weil
Entscheidungen immer von anderen Personen getroffen werden, gibt es keinen Grund
für die behinderte Person, selbst zu wählen und damit Verantwortung zu
übernehmen und Risiko einzugehen. Es gibt folglich auch keine Möglichkeit, die
Entscheidungsfähigkeit stufenweise zu erlernen” (NIEHOFF, 1994, 187).
4.2.3
Erschwernisse, die in den Strukturen liegen, in denen
geistig
behinderte Menschen leben Hinter
einer Beschneidung von Entscheidungsmöglichkeiten und somit einer
Einschränkung von Selbstbestimmung geistig behinderter Menschen verbergen sich
oft auch institutionelle Sachzwänge und Vorgaben (vgl. THEUNISSEN/PLAUTE, 1995,
61; HAHN, 1995, 10). HAHN führt dazu aus: “In
vielen Einrichtungen für Menschen mit geistiger Behinderung gibt es für die
professionellen Helfer Vorgaben personeller, zeitlicher und räumlich-dinglicher
Art, in denen zeitaufwendig praktizierte Selbstbestimmung stört” (HAHN, 1995,
10).
Um dies
zu Veranschaulichen, seien auch hier zwei Beispiele aus meiner Praxis
wiedergegeben: Frau
E., 33 Jahre alt, hat laut ärztlicher Diagnose ein Down-Syndrom. Sie kann sich
sprachlich ausdrücken. Auf Fragen und Aufforderungen reagiert sie jedoch meist
zeitlich verzögert. Frau E. ist nicht dazu in der Lage, sich selbständig zu
Duschen und ist daher auf die Unterstützung des Personals angewiesen. Frau E.
könnte nach Aufforderung selbst entscheiden, ob sie jetzt oder zu einem
späteren Zeitpunkt duschen möchte, welche Körperteile zuerst gewaschen werden
sollen, welches Badetuch sie zum Abtrocknen benützen und welchen Schlafanzug
sie anschließend anziehen möchte. Frau E. selbst entscheiden zu lassen, wäre
jedoch aus oben genannten Grund sehr zeitaufwendig. Weil anschließend auch noch
andere BewohnerInnen beim Duschen unterstützt werden müssen, die Küche
aufgeräumt und Organisatorisches im Büro erledigt werden muss, trifft meist
das Personal stellvertretend für Frau E. die Entscheidungen. Nur so ist es
möglich, innerhalb der Dienstzeiten die anfallende Tätigkeiten zu schaffen. Weil
das Personal am Abend pünktlich zu Dienstschluss nach Hause gehen möchte,
müssen die Bewohner Herr O. und Herr M., die beim zu Bett gehen Unterstützung
brauchen, schon vor Dienstschluss zu Bett gebracht werden, obwohl beide gerne
noch länger aufgeblieben wären. Sie müssen sich damit an die Dienstzeiten und
Rahmenbedingungen der Einrichtung anpassen. Ihre Selbstbestimmungsmöglichkeiten
werden hierdurch eingeschränkt. 4.2.4
Zusammenfassung Zusammenfassend
kann festgehalten werden: Bei einem geistig behinderten Menschen können die
Möglichkeiten zur Selbstbestimmung aufgrund dessen Behinderung, und daraus
resultierend, aufgrund einer verstärkten Abhängigkeit von anderen Menschen,
eingeschränkt sein. Der Schweregrad einer geistigen Behinderung, und damit
verbunden die Fähigkeit Bedürfnisse und Wünsche verbal oder nonverbal
mitzuteilen, beeinflusst ebenfalls die Selbstbestimmungsmöglichkeiten. Ein
weitgehend selbstbestimmt gestaltetes Leben wird jedoch oft auch durch eine
Überfürsorge durch das soziale Umfeld erschwert, indem geistig behinderten
Menschen Entscheidungs- und andere Möglichkeiten genommen werden, mit denen sie
selbst Erfahrungen sammeln könnten. Letztendlich erschweren aber auch
institutionelle Sachzwänge und Rahmenbedingungen, also die Strukturen, in denen
geistig behinderte Menschen leben, deren Entwicklung zu mehr Selbstbestimmung. 4.3
Voraussetzungen, damit geistig behinderte Menschen zu mehr Selbstbestimmung
gelangen können Wie
oben dargestellt wurde, sind Menschen mit einer geistigen Behinderung bei der
Bewältigung des Alltags auf die Unterstützung anderer Menschen angewiesen.
THEUNISSEN/PLAUTE schließen daraus, dass daher "auf eine lebensbegleitende
pädagogische Assistenz kaum verzichtet werden" kann, was "eine
Gratwanderung zwischen der Förderung von Selbstbestimmung und der Erzeugung
oder Aufrechterhaltung von Abhängigkeit" zur Folge habe (THEUNISSEN/PLAUTE,
1995, 22 f.). THEUNISSEN/PLAUTE führen dazu mit Blick auf das
Empowerment-Konzept weiter aus: "Geistig
behinderte Menschen können nicht einfach unter der Parole der Selbstbestimmung
in die 'Normalität' entlassen werden und sich damit selbst überlassen bleiben.
Empowerment zielt vielmehr darauf ab, assistierende Hilfe in einer Qualität und
Quantität zu organisieren, dass sowohl Möglichkeiten der Selbstbestimmung in
sozialer Bezogenheit als auch mehr individuelle Autonomie realisiert werden
können" (THEUNISSEN/PLAUTE, 1995, 23). Das
Verhältnis zwischen professionellen Helfer und geistig behinderten Menschen hat
sich daher im Sinne von Empowerment zu verändern. Angestrebt und erreicht
werden sollte eine "enthierarchisierte Beziehung", in der der
"professionelle Helfer den behinderten Menschen als Vertrauensperson zur
Verfügung stehen" sollte, sofern "dies von den Betroffenen so
gewünscht wird oder wenn es sich als sinnvoll bzw. notwendig erweist" (THEUNISSEN/PLAUTE,
1995, 23). Für
die Begleitung von geistig behinderten Menschen ist deshalb eine regelmäßige,
besonders kritische Reflexion der eigenen Arbeit professioneller Helfer
erforderlich, um einerseits dem Empowerment- und Selbstbestimmungsgedanken
gerecht zu werden und andererseits eine kognitive Überforderung der Betroffenen
zu vermeiden. Weil
“Empowerment als Selbst-Bemächtigung ... bei geistig behinderten Menschen
nicht vorbehaltlos erwartet werden” kann, vertreten THEUNISSEN/PLAUTE die
Ansicht, "daß bereits im Vorfeld des 'regulären' Empowerment-Konzepts
Aktivitäten angeregt werden müssen (z.B. Soziales Lernen), die Menschen mit
geistiger Behinderung in die Lage versetzen, Wünsche zu äußern, eigene und
kollektive Interessen zu artikulieren und sich in (Interessen-)Gruppen sozial
kompetent einzubringen" (THEUNISSEN/PLAUTE, 1995, 22). Hierzu seien
"Lernräume zu schaffen und Sozialisationsfelder zu sichern, in denen der
Betroffene eigene Entscheidungen treffen kann" (THEUNISSEN/PLAUTE, 1995,
22). Hinzu kommt, daß “desintegrierende und entwicklungshemmende
Rahmenbedingungen aufgehoben werden” müssen (THEUNISSEN/PLAUTE, 1995, 22).
Empowerment. Möglichkeiten und Grenzen geistig behinderter Menschen zu einem selbstbestimmten Leben zu finden. © Andreas Wagner, Geretsried 2001. Alle Rechte vorbehalten! |
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