1.
Einleitung Ich
arbeite seit November 1992 - zunächst als Zivi und seit Februar 1994 als
Angestellter - im Gruppendienst in einem Wohnheim für erwachsene geistig und
körperlich behinderte Menschen in Geretsried (Landkreis Bad Tölz -
Wolfratshausen/Bayern). In ihm wohnen auf vier Gruppen verteilt derzeit 32
Menschen. Träger des Wohnheims ist die örtliche Kreisvereinigung der
"Lebenshilfe für Menschen mit Behinderungen e.V.". In
meinem Arbeitsalltag habe ich die Erfahrung gemacht, daß man schnell dazu
geneigt ist, stellvertretend für behinderte Menschen Entscheidungen zu treffen.
Oft entscheidet nicht der behinderte Mensch selbst, wie er sich zum Beispiel
kleidet, wann er zum Duschen geht und wohin er in den Urlaub fährt, sondern das
pädagogische Personal. Dies geschieht oft, obwohl behinderte Menschen durchaus
selbst Entscheidungen treffen könnten. Die Gründe für dieses Verhalten sind
vielschichtig: Behinderten Menschen wird das Treffen von Entscheidungen und
damit verbunden die Übernahme von Verantwortung oft nicht zugetraut. Oft fehlt
aber auch die Zeit, behinderte Menschen in Entscheidungsprozesse einzubinden.
Als Folge davon übernimmt das pädagogische Personal die Verantwortung und
entscheidet stellvertretend für den behinderten Menschen. Dies erleichtert bzw.
ermöglicht wiederum, den behinderten Menschen besser in die Strukturen eines
Wohnheims zu integrieren. Doch, ist es legitim und pädagogisch sinnvoll für
behinderte Menschen und somit auch über behinderte Menschen Entscheidungen zu
treffen, obwohl sie dazu eigentlich selbst in der Lage wären? Das
Treffen von Entscheidungen über die Köpfe der Betroffenen hinweg, obwohl sie
dazu selbst in der Lage wären, kommt meiner Meinung nach einer Entmündigung
gleich. Damit wird ignoriert, daß behinderte Menschen die gleichen Rechte
haben, wie nicht behinderte Menschen. Auch behinderte Menschen haben ein Recht
auf freie Entfaltung der Persönlichkeit und somit auf eine selbstbestimmte
Gestaltung des eigenen Lebens. Aber nicht nur das. Es stellt sich auch die
Frage, wie behinderte Menschen zu mehr Selbständigkeit und Mündigkeit
hingeführt werden sollen, wenn ihnen schon die kleinsten Möglichkeiten
vorenthalten und genommen werden, einmal etwas selbst zu entscheiden? In
ihrem Grundsatzprogramm vom 10. November 1990 schrieb die “Bundesvereinigung
Lebenshilfe für geistig Behinderte” fest, daß sie geistig behinderte
Menschen in ihrem Streben nach "Eigenständigkeit und
Selbstbestimmung" unterstützen will (vgl. LEBENSHILFE, 1991, 14). Denn:
"Für jeden Menschen ist es wichtig, daß er sein Leben so weit wie
möglich selbst gestalten kann, daß er in allen Bereichen, die ihn betreffen,
mitreden und mitentscheiden kann" (LEBENSHILFE, 1991, 16). Wie kann jedoch
dieser Gedanke konkret in die Praxis umgesetzt werden und welcher pädagogische
Umgang ist notwendig, damit geistig behinderte Menschen tatsächlich zu einem
selbstbestimmten Leben finden können? Eine
Antwort auf diese Fragestellung kann das Empowerment-Konzept geben, das ich mit
seinen wichtigsten Aspekten im Folgenden vorstellen möchte. Anschließend werde
ich auf den Begriff der Selbstbestimmung und dessen Bedeutung für den Menschen
eingehen, sowie mögliche Erschwernisse der Selbstbestimmung bei geistig
behinderten Menschen aufzeigen. Abschließend werde ich anhand konkreter
Beispielen aus meiner Praxis heilerzieherische Handlungsansätze in Anlehnung an
das Empowerment-Konzept vorstellen, mit denen geistig behinderte Menschen auf
ihrem Weg zu einem selbstbestimmten Leben unterstützt werden können.
Empowerment. Möglichkeiten und Grenzen geistig behinderter Menschen zu einem selbstbestimmten Leben zu finden. © Andreas Wagner, Geretsried 2001. Alle Rechte vorbehalten! |
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